Für das Mitgliedermagazin Borussia öffnen Trainer André Fuhr und seine Spielerinnen die Kabinentür, lassen Autorin und Fotografin teilhaben am Ablauf eines Spiels in der Handball-Bundesliga. 270 spannende Minuten zwischen 17.30 und 22 Uhr an einem eiskalten Abend in Wellinghofen, der zwei weitere Punkte auf dem Weg zum ersehnten Meistertitel beschert.

Die Handball-Damen des BVB auf Titelkurs: In der Bundesliga steht die Mannschaft von Trainer André Fuhr an der Tabellenspitze – das soll bis zum Ende der Saison auch so bleiben. Allerdings fehlt in dieser denkwürdigen Corona-Saison ein ganz wichtiger Faktor für den schwarzgelben Erfolg – die Unterstützung der Zuschauer. Beim Bundesliga-Heimspielsieg gegen die HL Buchholz 08-Rosengarten haben die BVB-Damen den Lesern unseres Mitgliedermagazins aber einen ganz besonderen Blick hinter die Kulissen gestattet.  

Mittwoch, 20. Januar 2021

17.30 Uhr
Es ist dunkel in Dortmund-Wellinghofen. Und – um diese Jahreszeit – auch eiskalt. Die Sonne ist bereits untergegangen. Das einzige Licht auf dem verlassenen Schulhof der Johann-Gutenberg-Realschule kommt an diesem Mittwochabend strahlend und hell aus dem Nebeneingang der Sporthalle. Ein riesiges, kastenförmiges und unscheinbares Gebäude am Ende des Geländes. Eine ganz normale Schulturnhalle. 

17.45 Uhr
Schritte knirschen auf dem Streusalz. Die Tür zum Nebeneingang wird mit einem Quietschen aufgestoßen, und ein Schwall Kälte breitet sich in dem kleinen Vorraum aus. Der Trainer ist der Erste. Hinter André Fuhr fällt die Tür wieder ins Schloss. „Oh, haben wir heute zwei Messgeräte?“, fragt der BVB-Übungsleiter und grinst. Er begrüßt die beiden Helferinnen. Kassenwartin Maria Pfefferkuch misst in Stirnhöhe die Temperatur des Trainers. Vorschrift in diesen Zeiten. Und bei diesem Wetter anscheinend kein Problem. 34,8 Grad Celsius. „Das liegt an der Kälte draußen“, sagt Fuhr und trägt sich in die bereitliegende Liste ein. Ebenfalls Vorschrift. Genau wie der obligatorische Mund-Nasen-Schutz. Die Stimmung ist trotz Corona-Maßnahmen locker, von Anspannung – noch – keine Spur. André Fuhr geht den schmalen Treppengang in Richtung Kabinentrakt herunter. In der Zwischenzeit ist es vor dem Eingang voller geworden. Dick eingepackt stehen die 17 Bundesliga-Spielerinnen des BVB mit Mund-Nasen- Schutz vor der Tür. Das Stimmengewirr weht von draußen mit der Kälte herein, in regelmäßigen Abständen piepen die zwei Fiebermessgeräte.  

Vor einem Jahr waren derartige Vorschriften unvorstellbar. Doch das Coronavirus hat das Leben 2020 weltweit zum Stillstand gebracht – und beeinträchtigt es bis heute. Auch den Sport, auch den Handball. Die Saison 2019/2020 in der Handball-Bundesliga Frauen (HBF) war, wie in so vielen anderen Sportarten auch, abgebrochen worden. Nur unter strengen Hygienemaßnahmen, und – nach einer Anpassung der Corona- Schutzverordnungen – komplett ohne Zuschauer ist die Spielzeit 20/21 in der HBF gestartet. Die 16 Teams werden mindestens einmal in der Woche getestet, die Anzahl der Personen, die mit in die Halle dürfen, ist streng begrenzt. Vor und nach den Partien herrscht auch für Spieler und Trainer ultimative Mundschutzpflicht, vor jedem Spiel wird die Temperatur der Beteiligten gemessen. Die Vorsichtsmaßnahmen zeigen in Dortmund Wirkung: Bisher hat sich keine der Borussinnen mit dem Coronavirus infiziert. Nur indirekt war der BVB schon betroffen: Zunächst war das für Oktober geplante Champions-League-Spiel beim rumänischen Klub Ramnicu Valcea wegen mehrerer Corona-Fälle beim Gegner abgesagt worden. Im November mussten die Schwarzgelben dann selbst für zwei Wochen in Quarantäne, da mehrere Spielerinnen des ungarischen Königsklassen-Gegners Györi Audi ETO KC nach dem direkten Duell mit dem BVB positiv getestet worden sind. 

17.50 Uhr 
Schritte sind auf der Treppe zum Kabinengang zu hören. Vor der vorletzten Tür stehen André Fuhr, Co-Trainer Andreas Kuno, Betreuer Siggi Janz und Torwarttrainerin Clara Woltering. Schuhe quietschen auf dem Boden, als die Spielerinnen nach und nach am Anfang des Ganges erscheinen. Dana Bleckmann führt die Reihe der Borussinnen an. Die Begrüßung – angepasst an die aktuelle Lage nur mit der „Corona-Faust“ – fällt knapp aus. Das letzte Treffen an gleicher Stelle liegt keine 24 Stunden zurück, Videoanalyse und Abschlusstraining standen auf dem Plan. Dana Bleckmann betritt die Kabine und wirft ihre Tasche gleich auf den ersten Platz neben der Tür. Nach und nach füllt sich der enge Raum, in dem neben 17 Sportlerinnen und 17 großen Taschen auch zwei Kisten mit Wasser und ein großes Tablett mit Früchten und Süßigkeiten steht. Viel Platz bleibt da nicht mehr.  

18.00 Uhr
Torhüterin Yara ten Holte, die die meisten schwarzgelben Fans nur mit einem streng nach hinten geflochtenen Zopf kennen, streicht sich gerade durch die langen, blonden Haare, als André Fuhrs Stimme durch die Kabine schallt. Pünktlich. „So, los geht’s!“ Und schon leert sich der enge Raum wieder, zurück bleiben nur die Sporttaschen. Auf dem Weg durch den grell beleuchteten Kabinengang plaudern die Spielerinnen locker miteinander. Der BVB-Tross marschiert aber nicht in die Halle, sondern verlässt das Gebäude wieder. Spanierin Jennifer Gutiérrez Bermejo stößt nach wenigen Schritten die Tür in die stockdunkle und stille Nacht auf. Still ist es wenige Sekunden später dann nicht mehr, die BVB-Spielerinnen sind in kleinen Grüppchen in Gespräche vertieft. Handylichter blinken in der Dunkelheit. Mit ein wenig Abstand folgen Clara Woltering und Athletik-Trainer Tobias Vogt, den Abschluss bilden André Fuhr und Andreas Kuno. Von vorne schallt Gelächter zur Nachhut. Bis auf den BVB-Tross ist der Schulhof verlassen und ausgestorben. Die Borussinnen gehen zügig und zielstrebig, die Spielerinnen kennen den Weg genau. 

Vor jedem Heimspiel macht die Mannschaft von Trainer André Fuhr einen Spaziergang um die Halle Wellinghofen – den Kreislauf in Schwung bringen, frische Luft atmen, private Gespräche führen. Dass die BVB-Spielerinnen den Weg rund um das Schulgelände schon in- und auswendig kennen, ist bei der Menge an Spielen, die die Borussinnen in dieser Saison vor der Brust haben, kein Wunder. Der Terminkalender ist voll – in der Corona-Saison gab es Aufsteiger, aber keine Absteiger, so spielen in der HBF in dieser Saison 16 statt 14 Teams. Macht also 30 Ligaspiele. Dazu kommen für den BVB die Partien in der Königsklasse: Die Gruppe der Borussinnen besteht dabei nicht wie beim Fußball aus vier, sondern aus acht Teams, macht mit Hin- und Rückspielen 14 Partien alleine in der Gruppenphase. Als wenn die Saison nicht schon voll genug wäre, konnte der BVB Ende 2020 zwei Monate lang fast gar kein Spiel bestreiten: Anfang November mussten die BVB-Damen in Quarantäne, im Dezember kam dann die EM-Pause dazwischen, bei der sieben Spielerinnen im Einsatz waren. Das hat dafür gesorgt, dass das Team von Trainer André Fuhr im Januar und Februar eine Englische Woche nach der nächsten spielt. In den ersten acht Wochen des Jahres standen 16 Partien im Terminkalender, alle drei bis vier Tage ein Pflichtspiel. An einen geregelten Trainingsrhythmus, geschweige denn Regenerationspausen, ist da nicht zu denken. Zum Vergleich: Die Bundesliga-Fußballer hatten im Januar und Februar zwölf Spiele im Terminkalender stehen.  

18.15 Uhr
Die Spielerinnen sind von ihrem Spaziergang zurück, aus der Halle dröhnt laute Musik. Die Gegner sind schon in ihrer Kabine, die Tür steht offen. Die HL Buchholz 08-Rosengarten, kurz die Handball-Luchse, stimmen sich mit lauter Musik auf das Aufwärmen ein.  

Die Borussinnen verschwinden eine nach der anderen in ihrer Kabine und nehmen die Masken ab, André Fuhr und seine Kollegen haben eine Tür weiter ihren eigenen Raum. Eine Minute später wird es dann noch lauter. Die Musik der Borussinnen mischt sich mit der der Gegnerinnen, die Tür zur BVB-Kabine fällt zu. 

18.20 Uhr
Auf den höchstens 20 Quadratmetern herrscht ein geschäftiges Durcheinander. In der BVB- Kabine ist es mittlerweile richtig warm, die Spielerinnen laufen hin und her, mal auf die Toilette, mal zum Obstkorb, dann wieder auf ihren Platz und ins winzige Bad. In dem stehen gerade Kelly Dulfer, Inger Smits und Dana Bleckmann – jeweils vor einem der Waschbecken und schauen konzentriert in die Spiegel vor ihnen. In einer Hand die Haarbürste, in der anderen das Zopfgummi, im Mund die Haarspangen. In der Luft liegt der Geruch von Haarspray. Zurück in der Kabine hilft Jennifer Gutiérrez Bermejo Yara ten Holte gerade dabei, ihre Haare zu einem Zopf zu flechten. In der anderen Ecke der Kabine ratscht es laut. Isabell Roch klebt sich gerade die Finger mit Tape zusammen – damit ist die Torhüterin nicht die einzige. Über die einfachen Holzbänke werden große Taperollen hin- und hergereicht.  

18.30 Uhr
Während die Spielerinnen sich auf das Aufwärmen vorbereiten, plaudern die meisten noch locker miteinander. Dana Bleckmann hat am Vormittag einen Spaziergang gemacht, Jennifer Rode war mit ihrem Hund unterwegs. „Ich habe noch für die Uni gelernt“, erzählt Yara ten Holte über den Lärm der Stereoanlage hinweg. „Und gut geschlafen. So acht bis neun Stunden, die brauche ich immer.“ Johanna Stockschläder und Tina Abdulla singen im Hintergrund mit zur Musik, aus dem Bad sind holländische Gesprächsfetzen zu hören. Rinka Duijndam – eine der neun Oranje-Spielerinnen bei Schwarzgelb – sitzt in all dem Lärm und Gewusel konzentriert auf ihrem Platz, kaut Kaugummi und fixiert einen Punkt an der Wand, während sie sich die Haare zusammenbindet.  

18.35 Uhr
Der Kabinengang hat sich mittlerweile gefüllt. Vor dem Raum der Borussinnen quietscht es laut. Inger Smits liegt auf einer Faszienrolle auf dem Boden und bewegt sich vor und zurück. Neben ihr dehnt Jennifer Rode, die vor der Saison aus Leverkusen nach Dortmund gewechselt ist, ihre Schultern an der Wand. Es wird noch lauter im schmalen Kabinengang, die Tür der Gegner fliegt mit einem Knall auf, und die Spielerinnen der Handball-Luchse marschieren lautstark in die Halle. Auf der anderen Seite des Ganges erscheint André Fuhr. „Alle in die Kabine.“ Mit Blick auf den Besuch aus der Redaktion fügt er erklärend hinzu: „Mädels, wir haben Gäste.“ Tessa van Zijl, die ihre Arme und Schultern gerade mit einem grellgrünen Thera-Band aufgewärmt hat, verschwindet in der Tür. Die Musik geht aus, die Spielerinnen unterbrechen ihre Gespräche – von einem auf den anderen Moment ist es still.  

18.39 Uhr
Hinter André Fuhr fällt die Tür ins Schloss. 17 Spielerinnen, Trainer, Co-Trainer und Torwart- trainerin. Viel Platz zum Bewegen bleibt da nicht mehr. Die Spielerinnen sitzen auf den Holzbänken, schauen auf den Boden, richten nochmal ihre Haare, schnüren sich die Schuhe. Die lockere Atmosphäre weicht langsam der Anspannung. André Fuhr ergreift das Wort. „Schonmal vorweg: Wir haben das Aufwärmen etwas verändert, jeder macht sich gleich erst individuell warm, dann übernimmt Tobi“, sagt der BVB-Trainer mit ruhiger, sachlicher Stimme. Völlige Ruhe in der Kabine. „Nochmal zu gestern: Das Training war wirklich richtig gut, ihr habt von der Videoanalyse bis zum Ende viel Bereitschaft und Konzentration gezeigt. Wir müssen versuchen, genau diesen Schwung mitzunehmen.“ Fuhr macht eine kurze Pause und lässt den Blick über die konzentrierten Gesichter seiner Spielerinnen schweifen. Nur wenige Augenblicke sind vergangen, aber schon jetzt ist es spürbar stickig in der engen Kabine. Lange braucht der BVB-Übungsleiter aber auch nicht mehr. Fuhr geht nur noch kurz auf die Stärken des Gegners ein – im Detail besprochen hat das Team die aber schon bei der Videoanalyse am Abend zuvor. „Denkt dran, die Nummer elf hat im Hinspiel aus dem Rückraum erst den Wurf angetäuscht und danach geworfen – achtet darauf. Und denkt an das Zusammenspiel zwischen Rückraum-Mitte und Kreisläufer.“ Bevor die Borussinnen wenige Momente später in die Halle strömen, verlässt André Fuhr die Kabine wieder, und macht sich auf den Weg zur Auswechselbank.

Fuhr ist seit der Saison 2019/2020 Trainer der Bundesliga-Mannschaft. In dieser Zeit hat der 49-Jährige ein Team aufgebaut, das nicht nur Topfavorit auf den Meistertitel ist, sondern sich in der Champions League mit den 15 besten Mannschaften Europas misst. Gegen Auf- steiger HL Buchholz 08-Rosengarten zählt für den BVB folglich nichts anderes als ein Sieg. Schon beim Saisoneröffnungsspiel im September gewannen die Schwarzgelben ungefährdet mit 34:21. Seitdem hat der BVB diesem Auftaktsieg zehn weitere folgen lassen, unter anderem auswärts beim ärgsten Titelkonkurrenten Bietigheim, und ist das einzige noch verlustpunktfreie Team der Liga. Dass die Borussinnen im Heimspiel gegen die Handball-Luchse, die erst acht Zähler auf dem Konto haben, Punkte liegen lassen – unwahrscheinlich. Natürlich will niemand beim BVB den Gegner unterschätzen, „aber wir müssen schon unsere Qualitäten einschätzen können“, erklärt André Fuhr, der seine Kabinenansprache auch deshalb kurz und ruhig gehalten hat. „Wir haben mit Bundesliga und Champions League alle drei Tage ein Spiel. Da kann ich nicht bei jeder Ansprache den Hampelmann machen. Wenn es nicht viel zu sagen gibt, dann reichen auch wenige Worte.“ 

18.50 Uhr
In der großen, weitläufigen Halle ist es kalt, mittlerweile läuft aber auch hier Musik. Während die Borussinnen in ihren Aufwärm-Pullis quer über das Feld in Richtung Bank gehen, setzen sich Clara Monti Danielsson und Delaila Amega auf die menschenleeren Zuschauerränge. Nur eine der orangefarbenen Tribünen ist ausgezogen. Danielsson muss wegen einer Gehirnerschütterung passen, Amega befindet sich nach ihrem Kreuzbandriss im September noch im Aufbautraining. Ihre Kolleginnen versammeln sich auf der anderen Seite des Spielfeldes um die Ballkiste neben der Auswechselbank. Es schmatzt laut, als Alina Grijseels einen Ball aus der Kiste nimmt und über den Boden rollt. Neben ihr öffnet Kelly Vollebregt die Harz-Dose, die sofort ihren unverkennbaren Duft verströmt, und greift mit drei Fingern in die klebrige Substanz. Die Borussinnen harzen ihre Bälle ein und begeben sich nach und nach auf das Feld. Wie von André Fuhr angekündigt, machen sich die Spielerinnen zunächst individuell warm, auf der gegenüberliegenden Seite tun es die Handball-Luchse den Dortmunderinnen gleich. Die beiden Schiedsrichter laufen zwischen den Teams die Mittellinie auf und ab. Eigentlich alles wie an einem normalen Spieltag – wenn nicht die leeren Zuschauerränge und der fehlende Lärm der Fans wären. 

19.00 Uhr
Mittlerweile ist es nicht mehr ganz so kalt in der Halle, die Bewegung hat den riesigen Raum aufgeheizt, Harzgeruch liegt über dem Spielfeld. Auf den Rängen haben sich mittlerweile BVB-Abteilungsleiter Andreas Heiermann und sein Stellvertreter Andreas Bartels zu Clara Monti Danielsson und Delaila Amega gesellt. Natürlich auf Abstand. Natürlich mit Maske. Daneben sitzen bereits drei der Aufbauhelfer, etwas weiter oben die Mitarbeiter von Sport-Live, die alles für den bevorstehenden Online-Stream des Spiels vorbereiten. Pünktlich um 19 Uhr kommt doch noch ein Fan den schmalen Treppengang auf der Tribüne herunter: Vorsichtig geht BVB-Präsident Dr. Reinhard Rauball durch die spärlich gefüllten Reihen und begrüßt die Anwesenden mit FFP2-Maske und Corona-Faust. Währenddessen ist BVB-Athletik-Trainer Tobias Vogt auf dem Feld fertig mit seiner Arbeit, die Borussinnen werfen sich die Bälle zu. Auf dem Spielfeld ist alles wie immer.

Rund um das Spiel ist ohne Zuschauer dagegen übe haupt nichts wie immer. Während des Aufwärmens der Sportlerinnen bilden sich vor der Tageskasse am Eingang und vor den Verkaufsständen im Vorraum eigentlich lange Schlangen, aktuell herrscht in der Halle Wellinghofen bei den Spielen der BVB-Damen aber gähnende Leere. Mit den gleichen Szenen haben auch die anderen Vereine in der Liga zu kämpfen. Das trägt nicht nur zu einer geisterhaften Atmosphäre bei – es sorgt auch für Existenzängste bei vielen Klubs. Fast alle Vereine in der Handball-Bundesliga Frauen mussten ihre Spielerinnen und Mitarbeiter im vergangenen Jahr in Kurzarbeit schicken. Die Handball-Abteilung des BVB hat zwar auf Kurzarbeit verzichten können, aber auch in Dortmund machen sich die fehlenden Einnahmen bemerkbar. „Wir haben in dieser Saison hohe Mehrkosten durch unsere Teilnahme an der Champions League“, erklärt Abteilungsvorstand Andreas Heiermann. „Zum einen durch enorme Reisekosten zu den Auswärtsspielen, zum anderen durch den finanziellen Aufwand, den wir haben, um die Voraussetzungen für ein internationales Spiel in der Helmut-Körnig-Halle zu schaffen.“ Auf der anderen Seite sind die Einnahmen in dieser Spielzeit ohne Zuschauer gleich Null, genau wie bei den anderen Bundesligisten auch. Auch wenn die Saison aktuell abgesehen von einigen verschobenen Partien noch ohne größere Corona-Zwischenfälle läuft – ewig werden die Klubs in der Handball-Bundesliga Frauen ohne Einnahmen nicht überleben können. 

19.20 Uhr
Nach dem Aufwärmen machen sich die Borussinnen wieder auf den Weg in die Kabine. In dem engen Raum ist es jetzt unglaublich warm, es riecht nach Harz und Haarspray. Die Spielerinnen streifen sich ihre Trikots über, richten noch einmal die Frisuren, schnüren die Schuhe neu. André Fuhr betritt die Kabine und schließt die Tür hinter sich. Von lockerer Plauderei ist jetzt keine Spur mehr. Bis auf die Musik, die leise aus der Halle zu hören ist, ist es still. „Wir starten mit Jennifer auf Rechtsaußen, Kelly, Inger und Tessa im Rückraum, Kelly auf Linksaußen, Merel am Kreis. Yara fängt im Tor an.“ Nach der Aufstellung schwört Fuhr seine Spielerinnen darauf ein, in der Abwehr auch den letzten Schritt zu gehen und an das eigene Tempospiel zu denken. Die zweite Ansprache des BVB-Übungsleiters an diesem Abend ist noch kürzer als die erste. Schon nach zwei Minuten wird es laut in der Kabine, die Spielerinnen klatschen in die Hände, stacheln sich gegenseitig lautstark an. Es wird ernst.  

19.25 Uhr
Die Kabinentür geht wieder auf, die Borussinnen klatschen sich im Gang erneut ab, hier wirkt das Geschrei noch lauter als in der Kabine. „Auf geht’s, los!“, brüllt Kelly Vollebregt, während sie ihre Kolleginnen abklatscht. Als Andreas Kuno die Tür zur Halle öffnet, ist über die Lautsprecher die Stimme des Hallensprechers zu hören, der aktuell nicht gegen Zuschauerlärm anschreien muss. Während das Trainerteam an der offenen Tür wartet, stehen die Spielerinnen in kleinen Grüppchen zusammen und dehnen sich. Bis es losgeht. Die Borussinnen stellen sich ihren Nummern nach in einer Reihe auf, Dana Bleckmann mit der 66 ist die Letzte. Nachdem ihre Kolleginnen aus dem Kabinengang verschwunden sind, klatscht die 19-Jährige das Trainerteam ab und läuft auf das Feld. Neben der Musik und der Stimme des Hallensprechers sind zwei Trommeln zu hören: Zwei der Aufbau-Helfer sitzen in der Mitte der Tribüne und sorgen für einen Hauch der Atmosphäre, die mit Fans in der Halle Wellinghofen herrschen würde. An der Wand haben die Helfer Fanplakate und Fahnen angebracht. Aber das Jubeln, das Rufen, das Schreien – all das fehlt. Trotzdem winkt Dana Bleckmann, wie schon ihre Kolleginnen vor ihr, in Richtung der orangefarbenen Tribüne, auf der die an zwei Händen abzählbaren Zuschauer um Andreas Heiermann, Reinhard Rauball und Co. aufgestanden sind und applaudieren. Dana Bleckmann reiht sich neben ihren Kolleginnen ein. Einen Augenblick stehen die Borussinnen ruhig da und schauen auf die fast leeren Ränge. 

Vor einem Jahr um diese Zeit wurden die BVB-Spielerinnen beim Einlaufen noch von über 1000 Zuschauern unterstützt. In Deutschland sind Geisterspiele aktuell aber in jeder Sportart an der Tagesordnung. Zum Saisonstart im Sommer war unter strengen Hygienemaßnahmen noch eine geringe Anzahl an Zuschauern zugelassen: Die BVB-Handballerinnen haben die ersten Saisonspiele noch mit 200 Fans in der Halle Wellinghofen bestritten. Voraussetzung: personalisierte Tickets, ausgefüllte Personalbögen, Temperaturmessung am Halleneingang, Abstandhalten, Maskenpflicht bis zum Sitzplatz, kein Verkauf von Essen und Getränken, regelmäßiges Desinfizieren der Hände. Schon diese Szenen waren gewöhnungsbedürftig. Mittlerweile sind Fans in den Hallen durch die Corona-Schutzverordnungen der Bundesländer komplett verboten. Für die wenigen Funktionäre, Helfer und Pressemitarbeiter vor Ort gilt das aufwendige Prozedere vom Sommer aber natürlich weiterhin. Mittlerweile dürfen die Masken auch auf den Sitzplätzen nicht mehr abgenommen werden. Was auf der einen Seite zum Schutz von Fans, Spielern und Mitarbeitern absolut notwendig ist, sorgt auf der anderen Seite für eine mehr als gewöhnungsbedürftige Atmosphäre bei den Spielen. Kein Fachsimpeln in der Halbzeit vor den Getränkeständen. Völlige Stille während der Auszeiten. Keine Fans, die ihren Verein zum Sieg schreien. 

19.30 Uhr
Die Schiedsrichter pfeifen das Spiel pünktlich an, die zwei einsamen Trommler nehmen ihre Arbeit auf. Für den BVB läuft auf dem Feld alles nach Plan: Die Borussinnen setzen sich nach und nach ab, gehen – wie André Fuhr gefordert hatte – in der Abwehr jeden Schritt und können immer wieder ihr Tempospiel zeigen. In Minute 27 dann allerdings eine kleine Schrecksekunde: BVB-Torhüterin Yara ten Holte stößt bei einer Parade mit einer Gegnerin zusammen, bleibt auf dem Boden liegen und hält sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die linke Hand. Es ist totenstill in der Halle. Nach kurzer Behandlung durch Dr. Dirk Tintrup, Mannschaftsarzt der BVB-Damen, hat ten Holte aber schon wieder ein Lachen auf dem Gesicht und steht auf. Szenen wie diese würden eigentlich von donnerndem Applaus begleitet werden. An diesem Mittwochabend ist der leise Applaus von Reinhard Rauball und den wenigen Zuschauern auf der Tribüne aber kaum zu hören. 

20.07 Uhr
Die Schiedsrichter pfeifen die erste Hälfte ab. Auf der Anzeigetafel steht ein sicheres 19:8 für Schwarzgelb. Die Stimmung bei den Spielerinnen ist auf dem Weg in die Kabine entsprechend gelöst. Auf der Tribüne ist Reinhard Rauball aufgestanden und klatscht in Richtung der Borussinnen, ansonsten tut sich kaum etwas auf den Rängen. Wo sich sonst Hunderte von Menschen durch die engen Gänge in den Vorraum schieben, herrscht gähnende Leere. Keine Verkaufsstände, keine Schlangen vor den Toiletten, keine Raucher vor der Halle. In der Kabine ist dafür alles wie immer. Die Spielerinnen finden sich gerade auf ihren Plätzen ein, als André Fuhr durch die Tür kommt. Rinka Duijndam, Isabell Roch, Tina Abdulla und Jennifer Rode sind in der Halle geblieben und machen sich warm, in der Kabine ist es also nicht ganz so voll wie vor dem Spiel. „Insgesamt sieht das gut aus. Woran wir aber noch arbeiten müssen: Wenn die einen Übergang spielen, dann müssen wir offensiver pressen, kommt eher raus“, fordert der BVB- Trainer mit ruhiger Stimme. „Und steht gegen die Linkshänderin, die Nummer fünf, tiefer und lasst ruhig mal einen Wurf zu!“ Auch die Halbzeitansprache fällt kurz aus. „Ich habe noch nie so wenig bei einem Spiel geredet wie heute, aber ich bin auch einfach sehr zufrieden“, erklärt André Fuhr auf dem Weg zurück auf die Trainerbank.  

20.22 Uhr
Mit etwas Verspätung wird die zweite Halbzeit angepfiffen. Das Spiel läuft genauso weiter wie schon in Hälfte eins – zur Freude von André Fuhr. Die Borussinnen setzen sich trotz mehrerer Wechsel immer weiter ab. In der Auszeit ist Fuhrs Stimme klar und deutlich über das Spielfeld zu hören. Nicht, weil der BVB-Trainer so laut schreit, dafür gibt es heute auch keinen Grund, sondern weil es in der Halle sonst keine Geräusche gibt. Laut Anzeigetafel sind noch zehn Minuten zu spielen, in der vergangenen Saison wurde die Schlussphase der Heimspiele immer von schwarzgelben Fangesängen begleitet. Es bleibt aufgrund der Corona-Pandemie an diesem Mittwochabend aber still in der Halle Wellinghofen, dabei befindet sich der BVB auf direktem Weg in Richtung Deutsche Meisterschaft.  

Der Wille, endlich den ersten Meistertitel der Vereinsgeschichte zu holen, ist bei der Borussia noch größer als in der vergangenen Saison. Die BVB-Damen sind in der HBF immer noch verlustpunktfrei – vor allem der Sieg gegen den großen Konkurrenten SG BBM Bietigheim Ende Oktober war ein großer Fingerzeig in Richtung Deutsche Meisterschaft. „Wir wollen natürlich unsere Leistung aus der letzten Saison bestätigen“, hatte Andreas Bartels aus dem BVB-Vorstand vor dem Beginn der Spielzeit bestätigt. Eine eindeutige Aussage. Denn auch in der Saison 2019/2020 stand Schwarzgelb in der Tabelle ganz oben, musste bis zum Saisonabbruch nur eine Niederlage gegen die TuS Metzingen einstecken. Nach dem vorzeitigen Ende der Spielzeit wurde den Borussinnen zwar der Champions-League-Platz, nicht aber der Titel zugesprochen. Der Ärger darüber ist in Dortmund zwar mittlerweile verraucht – das Verlangen, den verpassten Erfolg nachzuholen, ist dafür größer denn je. 

20.53 Uhr
Das war’s. Ein schriller Pfiff beendet das Spiel. 39:15 für Schwarzgelb. Die Borussinnen umarmen sich, klatschen sich ab und applaudieren dann – trotz fast leeren Rängen – in Richtung der Tribünen. Isabell Roch umarmt gerade Jennifer Bermejo, als Reinhard Rauball ausgestattet mit seiner FFP2-Maske über das Spielfeld geht. Gratulieren kann der BVB-Präsident den Spielerinnen aber nur mit der Corona-Faust. Keine Umarmungen. Keine langen Gespräche. Die Borussinnen sammeln sich langsam auf der Auswechselbank, unterhalten sich, befreien ihre Finger vom Tape. Dirk Tintrup schaut sich die Hand von Yara ten Holte an. „Ich weiß gar nicht mehr genau, wie das passiert ist“, sagt die Niederländerin und schaut auf ihre leicht blau angelaufene Hand. „Ich bin irgendwie mit der Gegnerin zusammengestoßen. Aber es ist nichts Schlimmes“, sagt die Torhüterin und lacht. Einige der Spielerinnen ziehen ihre Schuhe aus und gehen locker das Feld hoch und runter. Alles wie immer. Im Hintergrund allerdings keine Jugendspielerinnen, die die leeren Tore zum Üben nutzen. Keine Fans, die vor den Ordnern mit ihren Autogrammkarten warten. Die Musik, die nach dem Abpfiff eingesetzt hat, geht plötzlich aus. Die Tribüne ist leer. Die Helfer fangen bereits damit an, die Werbung vom Hallenboden zu entfernen. Ein sichtlich zufriedener André Fuhr schlendert in Richtung Kabinengang.

21.05 Uhr
Die Kabine der Borussinnen füllt sich. Von Anspannung keine Spur mehr. Schuhe und Knieschoner fliegen in die großen schwarzgelben Taschen, dafür werden Shampoo-Flaschen und Handtücher herausgekramt. Während die ersten Spielerinnen unter der Dusche verschwinden, sitzen Merel Freriks, Rinka Duijndam und Laura van der Heijden noch in der großen, leeren Halle. Zwei Mitarbeiter eines niederländischen TV-Senders nehmen ein Interview mit den drei Oranje-Spielerinnen auf. Hinter der Kamera entfernen die Helfer gerade die letzten Werbe-Banner vom Hallenboden. Ein paar Minuten später machen sich auch die drei Holländerinnen nach einem herzlichen „Dank je wel“ auf den Weg in die Kabine, in der Dana Bleckmann schon fertig umgezogen ist. Ihre noch nassen Haare versteckt die 19-Jährige gerade unter der großen Kapuze ihrer Winterjacke. „Tschüss zusammen!“ Nach einem kurzen Winken in die Runde verschwindet die Borussin aus der Kabine. Als nächste schultert Yara ten Holte ihre Tasche. Das nächste Wiedersehen mit den Kolleginnen steht schon am nächsten Mittag an. In gerade einmal zwölf Stunden. Bis dahin wird die Torhüterin ihren Schlaf brauchen. Acht bis neun Stunden.

21.40 Uhr
Die Werbung und die Fanplakate sind verschwunden, die Musik aus. Es ist wieder kühler geworden in der Halle Wellinghofen. Und ruhig. Nur ein leichtes Rauschen ist von der Reinigungsmaschine zu hören, die der Hausmeister über den verharzten Boden fährt. Die Handball-Luchse sind bereits auf dem Heimweg. Nur aus dem Kabinengang ist noch ein Lachen zu hören, dann ein Klopfen. „Ja?“, Inger Smits öffnet mit nassen Haaren die BVB-Kabinentür, aus der es nach Shampoo duftet. Im Hintergrund steht nur noch Kelly Dulfer, die gerade ihre Haare bürstet. „Ich will um 21:50 Uhr hier raus sein“, sagt Kassenwartin Maria Pfefferkuch, die schon dick eingepackt und mit Maske ausgestattet im Kabinengang steht und auf ihre Uhr tippt. Smits nickt, „wir sind fast fertig“. Die beiden Niederländerinnen ziehen ihre Jacken an und schultern ihre Taschen. Die Kabine ist fast komplett leer, nur die Wasserkisten und das Süßigkeiten-Tablett stehen noch neben der Tür. Dulfer und Smits heben die Hand. „Tschüss zusammen!“ Die beiden Borussinnen gehen zurück durch den Kabinengang und verschwinden dann in der Dunkelheit. Kurz darauf verlassen auch Maria Pfefferkuch und ihr Team die Halle. Der Hausmeister schließt die Türen ab. 

22.00 Uhr
Es ist wieder totenstill auf dem verlassenen Schulhof der Johann-Gutenberg-Realschule. Daran, dass hier gerade ein Bundesliga-Spiel stattgefunden hat, erinnert nichts mehr. Die Lichter in der Sporthalle sind aus, in der Dunkelheit ist das riesige Gebäude am Ende des Schulhofes kaum zu erkennen. Die Halle Wellinghofen liegt still da – wie eine ganz normale Schulturnhalle.

Text: Nina Bargel 
Fotos: Mareen Meyer