Einen Monat nach dem Gewinn des ersten Deutschen Meistertitels der Vereinsgeschichte blicken wir noch einmal zurück auf die historische Saison der BVB-Handball-Damen - und schauen mit Trainer André Fuhr und Abteilungsvorstand Andreas Heiermann auch voraus auf die anstehende Saison.

22. Mai 2021. 19:31 Uhr. Dortmund. Halle Wellinghofen. BVB-Kapitänin Alina Grijseels richtet noch einmal ihre Krone, geht dann einige Schritte auf Andreas Thiel zu und nimmt vom HBF-Vorstand die riesige silberne Meisterschale entgegen. Die 25-Jährige dreht sich langsam zu ihrer Mannschaft um, wartet noch einige Sekunden und stemmt die Trophäe dann mit einem breiten Grinsen und von ohrenbetäubenden Jubelschreien begleitet in Richtung des Hallendaches. Einen Moment später verpassen Kelly Dulfer, Isabell Roch und Yara ten Holte ihrer Kapitänin und der Schale die erste von vielen Sektduschen an diesem Abend. Spielerinnen, Trainer, Verantwortliche, Betreuer – sie alle schreien ihre Freude und ihre Erleichterung heraus. Borussia Dortmund ist Deutscher Meister in der Handball Bundesliga Frauen (HBF) – zum ersten Mal in der Geschichte der Abteilung. 

Und diese Geschichte hätte so einfach sein können. Ist sie aber nicht. Eigentlich sollte sie schon ein Jahr früher zu Ende erzählt sein. Im vergangenen Sommer stand aber urplötzlich fest, dass es noch einen zweiten Teil geben muss, ehe Vorstand Andreas Heiermann, Trainer André Fuhr, Alina Grijseels und Co. im letzten Kapitel ankommen – dem mit den Feierszenen, der Schale und den Sektduschen. Und der zweite Teil sollte noch schwieriger und länger werden als der erste. 

„Das war eine ganz schwierige Saison“, sagt Trainer André Fuhr. „Natürlich sieht das alles leicht aus, wenn man mit einem großen Vor- sprung ins Ziel geht, das erscheint wie ein Spaziergang.“ Auf dem Papier ist es genauso wie Fuhr es beschreibt: Auf dem Konto der Borussinnen stehen am Saisonende nach 30 gespielten Partien 60:0 Punkte und über 1000 geworfene Tore. Schon drei Spieltage vor dem Ende der Saison holten sich die Borussinnen mit einem Auswärtssieg in Halle den Titel. In der Praxis hat sich der BVB dieses Ergebnis im wörtlichen Sinne aber mit viel Blut, Schweiß und Tränen erarbeitet. 

„Das war kein 100-Meter-Lauf“, erklärt Fuhr, „das war ein Marathon.“ Der begann schon in der vergangenen Spielzeit, als die Corona-Pandemie die Welt in die Knie zwang. Die Handball Bundesliga Frauen (HBF) entschied sich früh für einen Saisonabbruch – und sorgte nur wenig später mit der Entscheidung, den Meister-Titel trotz großen Vorsprungs nicht an den BVB zu vergeben, für riesigen Ärger. Die bittere Pille musste erstmal geschluckt werden, bevor André Fuhr sich mit seiner Mannschaft an den zweiten Teil machen konnte. Und wieder trafen die Borussinnen auf den Bösewicht der Geschichte: Corona. Insgesamt musste die Mannschaft vier Mal in Quarantäne, drei Spielerinnen und Fuhr selbst infizierten sich mit dem Virus. Das bedeutete auch zahlreiche Spielverlegungen, die in bereits zahlreiche Englische Wochen gequetscht werden mussten. Organisatorisch ein Alptraum. Dazu die erste Königsklassen-Saison der Geschichte, Reisen während der Pandemie nach Russland und Kroatien. Durch den durcheinandergewürfelten Spielplan verschob sich die Titel-Entscheidung immer wieder nach hinten, die Verlegungen häuften sich, der Terminplan wurde immer enger. 

Und dann verfiel ein ganzer Verein in Schockstarre. Andreas Bartels, stellvertretender Abteilungsvorstand, der organisatorisch alle Fäden in der Hand hielt, die Abteilung zusammen mit Andreas Heiermann zu dem gemacht hat, was sie heute ist, und auch menschlich ein ganz wichtiger Teil der BVB-Familie war, verstarb in der Nacht auf Ostermontag nach schwerer Krankheit. Fassungslosigkeit. Leere. Für einen Augenblick war der Sport plötzlich nur noch Nebensache. „Er hat eine so große Rolle bei uns gespielt, er war unglaublich wichtig für uns“, sagt André Fuhr über Bartels, der für den schwarzgelben Handball gelebt hat. „So eine Abteilung zu führen, ist ein Vollzeitjob. Vor Andreas Bartels muss ich meinen Hut ziehen, wie er das neben seiner Geschäftsführer-Tätigkeit noch gemacht hat. Das ist schon phänomenal, da musst du schon extreme Leidenschaft haben“, erklärt Andreas Heiermann. Auch wenn es schwerfiel - in Gedenken an Andreas Bartels führten die Borussinnen den sportlichen Erfolg nach diesem Schicksalsschlag weiter. „Das war eine schwierige Situation. Ich finde, wir haben sie maximal gut gelöst – und da können wir uns auch mal auf die Schulter klopfen“, sagt André Fuhr. „Für mich ist der Erfolg trotz der Schwierigkeiten auch eine Bestätigung der nachhaltigen Arbeit der letzten Jahre“, erklärt Andreas Heiermann „Wir haben über zwei Jahre nur ein Bundesliga-Spiel verloren, das ist einfach überragend.“ 

Überragend waren die Borussinnen dann auch im Kapitel „Feiern“. Schon beim Titelgewinn in Halle ließen sie ihrer Freude freien Lauf – Sektduschen, Polonäse, Gesangseinlagen, das volle Programm. Und auch zwei Wochen später, bei der Übergabe der Meisterschale, gaben die Schwarzgelben noch einmal alles, um den geschichtsträchtigen Titel gebührend zu feiern. 

Wieviel Anspannung ist nach dem Schlusspfiff in Halle von Euch abgefallen?

FUHR: Das war schon eine Menge. (lacht) Wir hatten verschiedene Etappen, wo wir gesagt haben, dass es schon gut aussieht: Nach dem Spiel in Metzingen, nach dem zweiten Sieg gegen Bietigheim. Trotzdem ist die Anspannung nicht abgefallen, sie ist sogar noch mehr geworden. Ich hatte immer im Kopf: Jetzt muss es aber auch wirklich klappen. 

HEIERMANN: Ich konnte es erstmal gar nicht so richtig realisieren, das dauert ein bisschen länger. Ich war vor dem Spiel gar nicht aufgeregt, ich war wie in Trance. Ich kann gar nicht sagen, dass bei mir viel abgefallen ist. Man realisiert das erst ein bisschen später. 

FUHR: Das braucht noch ein bisschen Zeit, man muss zur Ruhe kommen. Ich denke, dass ich das erst im Urlaub so richtig verarbeiten kann. 

Hand aufs Herz – wann wart Ihr Euch sicher, dass Ihr den Titel holen werdet?

FUHR: Ich bin da eher pessimistisch veranlagt. Ich hatte erst nach dem Sieg gegen Thüringen, also vier Spieltage vor dem Ende, keine Zweifel mehr. 

HEIERMANN: Bei mir ist das genauso. Ich würde nie sagen, dass ich das wusste, ich bin ein Zweck-Pessimist. Von daher habe ich erst daran geglaubt, als es so weit war. Aber nach dem Sieg gegen Thüringen war für mich im Grunde genommen klar, dass wir uns das nicht mehr nehmen lassen. 

Den Titelgewinn in Halle habt Ihr schon vor Ort ordentlich gefeiert: Wie war denn die Busfahrt zurück nach Dortmund?

FUHR: Es gab schon viele besondere Busfahrten, aber wir sind Deutscher Meister geworden, das habe ich ja im Seniorenbereich auch noch nicht erlebt, von daher war es schon die schönste.

HEIERMANN: Es gab zwei richtig geile Fahrten: Das war natürlich ein- mal diese und die Heimfahrt nach dem Hinspiel-Sieg in Bietigheim. Nach dem Spiel haben vor und im Bus auch schon alle getanzt, aber die Fahrt nach dem Sieg in Halle hat natürlich alles getoppt. 

Und ihr habt auch noch ein extra Runde gedreht... 

HEIERMANNN: (lacht) Ja, wir sind noch eine Runde um den Borsigplatz gefahren. Aber es war schon halb drei nachts, die Ausgangssperre war immer noch in Kraft, da haben wir natürlich keine Fans mehr angetroffen. 

Nicht nur am Borsigplatz fehlte dieser so wichtige Teil der Geschichte: Fast die ganze Saison über musste Schwarzgelb wie der Rest der Liga aufgrund der Corona-Pandemie ohne Fans auskommen. Und das ausgerechnet in diesem Erfolgskapitel. „Das tut natürlich sehr weh“, bestätigt Fuhr. „Das sind ja nochmal andere Emotionen, die von außen kommen, die sich auf die Mannschaft übertragen. Außerdem möchte man ja auch, dass Fans, Angehörige, Familie und Freunde einfach mehr teilhaben können an dem Erfolg.“ Auch Andreas Heiermann hat die schwarzgelben Anhänger schmerzlich vermisst: „Der Applaus und die Würdigung in der Halle sind natürlich verloren gegangen.“ Das habe man sich alles anders gewünscht, sagt Fuhr. „Aber das mussten wir jetzt so nehmen, wie es ist und das Beste daraus machen.“ Und das haben die Borussinnen im wahrsten Sinne des Wortes – denn auch nachdem der Titel bereits feststand, war die Geschichte noch nicht zu Ende. Neben der offiziellen Ehrung standen noch drei weitere Spiele auf dem Plan – das erste nur vier Tage nach dem Titelgewinn auswärts in Bad Wildungen. Eine normale Spielvorbereitung schien eigentlich undenkbar. „Es war aber überraschend leicht“, sagt André Fuhr. „Alle waren bereit: Sie wollten trainieren, und das haben wir auch gemacht.“ Der Lohn für die Arbeit: Auch die letzten drei der insgesamt 30 Saisonspiele hat der BVB für sich entschieden. 

Ungeschlagener Meister. Die perfekte Saison. Der SG BBM Bietigheim ist das 2017 ebenfalls gelungen, allerdings spielten damals nur 14 Teams in der Liga, die SG musste also nur 26 Spiele gewinnen, der BVB in diesem Jahr 30. „Wir wollten es einfach erfolgreich zu Ende bringen und dieses historische Ergebnis holen“, erklärt André Fuhr, der die Geschichte mit seiner Mannschaft so noch einmal zu etwas ganz Besonderem gemacht hat. 

Die Borussinnen haben durchgehalten – egal wie lang und schmerzhaft einige der Kapitel auch waren, der zweite Teil der Geschichte hat ein Happy End. Zu Ende ist die BVB-Handball-Saga aber noch lange nicht, schon im Juli geht es weiter mit der Vorbereitung auf den nächsten Teil – die Saison 21/22. Einige der bisherigen Protagonistinnen werden dabei allerdings fehlen. 

Neben den niederländischen Topspielerinnen Inger Smits und Kelly Dulfer gibt es sechs weitere Abgänge.

HEIERMANN: Der Umbruch war und ist alternativlos. Ich bin aber natürlich traurig darüber, ich werde die Spielerinnen, die uns ver- lassen, vermissen. Im Profisport werden aber nunmal solche Entscheidungen getroffen. Ich glaube, dass die Mannschaft noch mehr hätte erreichen können, aber der Umbruch musste sein, und wir bauen jetzt schon wieder eine gute Mannschaft auf. 

FUHR: Es ist ja auch nicht so, dass alle Spielerinnen gehen, sondern wir haben auch sehr bewusst bestimmten Spielerinnen einen neuen Vertrag gegeben. Wir verlieren große sportliche Qualität, das ist völlig klar, aber wir haben auch vor zwei Jahren gezeigt, dass wir einen Umbruch und den Aufbau einer neuen Mannschaft schaffen können. Das werden wir wieder versuchen. 

Ihr habt bereits sieben Neuzugänge verpflichtet. Aus der Bundesliga kommen Linksaußen Amelie Berger von Konkurrent Bietigheim, Torhüterin Madita Kohorst aus Metzingen und Rückraumspielerin Mia Zschocke aus Leverkusen. 

HEIERMANN: Das sind alles Top-Spielerinnen, die uns enorm weiterhelfen werden. Mia Zschocke ist absolute Wunschspielerin von André; es freut mich wirklich sehr, dass wir sie verpflichten konnten. Sie ist erst 23 Jahre alt, mit ihr kommt ein Stück Zukunft zum BVB. 

Dazu stehen bereits die Wechsel der norwegischen Kreisläuferin Mie Sando, der schwedischen Linksaußen-Spielerin Jacqueline Moreno, der Japanerin Haruno Sasaki und der Ungarin Viktoria Woth fest.
FUHR: Mie ist eine erfahrene Kreisläuferin mit Qualitäten in Defensive und Offensive. Durch ihre körperliche Präsenz wird sie unsere Abwehr stabilisieren und uns auch im Angriff neue Optionen geben. Mit ihrer Art, das Kreisläuferspiel zu interpretieren, ist sie eine optimale Part- nerin auf dieser Position zu Merel Freriks. Und Jackie Moreno ist eine sehr gut ausgebildete, talentierte Linksaußen-Spielerin, die mit ihrem Tempo und den Qualitäten im Konterspiel perfekt zu unserer Spielweise passen wird. Mit Haruno holen wir die erste japanische Rückraum-Spielerin nach Europa - Viktoria Woth wollen wir, nachdem sie ihre Verletzung überstanden hat, langsam an die Bundesliga heranführen.

Es sind nicht nur bereits sieben Neuzugänge zusammen, sondern auch schon die Vorbereitung ausgearbeitet. Es ist also alles angerichtet für die neue Saison. Mit welchen Erwartungen geht Ihr in die Spielzeit?

FUHR: Wir haben die Latte diese Saison sehr hochgelegt; es ist utopisch, das zu wiederholen. 

HEIERMANN: Ich bin mir sicher, dass wir wieder oben stehen werden. Ich bin mir aber auch bewusst, dass Bietigheim vor allem durch die Verpflichtungen von Inger und Kelly Favorit ist. Wir werden aber oben mitspielen, das ist selbstverständlich für mich. 

FUHR: Wir wissen, dass sich Bietigheim mit viel Geld und Weitsicht verstärkt hat. Sie wollen das jetzt unbedingt. Ich vergleiche das immer mit dem BVB in den Klopp-Jahren und Bayern München. Wir haben den Branchenführer jetzt gereizt und müssen schauen, wie der darauf reagiert. Wir werden aber sicherlich wieder oben mitmischen. Die Mannschaft, die wir zusammengestellt haben, hat die entsprechende Qualität und das Potential. Unser Ziel ist es, immer europäisch zu spielen, und das werden wir auch. 

Im Rücken wird die neue BVB-Mannschaft dabei den Deutschen Meistertitel, eine Menge Selbstvertrauen und hoffentlich auch wieder die schwarzgelben Fans haben. „Wir hoffen, dass die Art und Weise, wie wir den Titel jetzt feiern mussten, einmalig bleibt“, sagt André Fuhr. Abteilungsvorstand Andreas Heiermann glaubt fest daran, dass das erste Heimspiel wieder mit Zuschauern bestritten werden kann. „Ich weiß nicht, ob eine volle Halle möglich sein wird, aber Fans werden auf jeden Fall da sein.“ Die schwarzgelben Anhänger können dann hoffentlich wieder ein Teil des nächsten Kapitels der BVB-Handball- Damen werden. Nach zwei langen, schwierigen Episoden, die zum Schluss aber ein Happy End hatten, ist alles angerichtet für den nächsten Teil der schwarzgelben Geschichte.